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MorgenGrauen Zeitung


Re^212777: Hach... nu is was drin, inner MPA.


megaschmarrn: Arathorn (Artikel 48, Mon, 29. Apr 2024, 20:53:56)

Antwort auf Anthea

Einige Dinge, die hier neulich gepostet wurden, kann ich nicht
unwidersprochen lassen. Ist etwas laenger geworden, daher antworte ich auch
erst jetzt.

Bambulko, wenn du schreibst

"Ich meine, dass ich es toll faende, wenn jeder Politiker, der einen Krieg
befiehlt, oder unterstuetzt, dann auch in diesem Krieg an vorderster Front
mitkaempfen muesste."

scherst du kurzerhand alle Kriege ueber einen Kamm und suggerierst damit,
die legitime Selbstverteidigung der Ukraine (wobei man sie
selbstverstaendlich unterstuetzen darf und auch muss) sei genauso abzulehnen
wie der illegale Angriffskrieg der Russen. Ich finde das verwerflich.

Deine Forderung hat auch ein fundamentales Problem: Die Regierung eines
Landes hat als eine ihrer wesentlichen Aufgaben die Gewaehrleistung der
aeusseren Sicherheit und deren Verteidigung. Ohne aeussere Sicherheit haben
andere staatliche Aktivitaeten keine Basis, und wenn eine Regierung nicht
bereit ist, diese auch mit militaerischen Mitteln zu verteidigen, kann sie
ihrer Aufgabe schlicht nicht gerecht werden. Politiker *muessen* demzufolge
Verteidigungskriege unterstuetzen, und zwar mindestens die gegen das eigene
Land gerichteten. Da wir hier in Deutschland mit der Bundeswehr eine
Parlamentsarmee haben, wuerde deine Forderung *jeden* Abgeordneten
betreffen, der die Bundeswehr notwendigerweise zu einem Verteidigungseinsatz
schickt. Es ist also zum einen inakzeptabel und zum anderen schlicht
Schwachsinn, Politiker an die Front zu wuenschen, die ihrer ureigensten
Aufgabe nachkommen, die aeussere Sicherheit zu verteidigen.

Ausserdem implizierst du, dass jeder, der die Unterstuetzung der Ukraine
ablehnt, fuer den Frieden sei, und jeder Unterstuetzer der Ukraine
tatsaechlich den Krieg wolle. Das ist ebenfalls gefaehrlicher Unsinn.
Niemand gibt Waffen an die Ukraine ab, weil er Krieg will, sondern weil er
Frieden will. Dazu muss man die Ukraine soweit ausstatten, dass sie die
Russen rauswerfen kann. Von selber haben die naemlich nach eigenem Bekunden
kein Interesse aufzuhoeren.

Auch die haeufig gehoerte Polemik, pauschal alle Leute (statt nur Politiker)
an die Front zu wuenschen, die der voelkerrechtswidrig ueberfallenen Ukraine
helfen und diese Hilfe auch von ihren Regierungen und Volksvertretern
einfordern, ist vollkommen inakzeptabel, weil sie jegliche Unterstuetzung zu
diskreditieren versucht, obwohl diese voelkerrechtlich erlaubt und auch
dringend geboten ist.

Zudem klingt deine Forderung fuer mich nach einer Variante des Mantras "nie
wieder" von Friedensbewegung und Pazifisten, das gerne als "nie wieder
Krieg" verbreitet wird. Das ist allerdings ein grobes Missverstaendnis oder
eine fehlerhafte Verkuerzung, denn eigentlich war gemeint "nie wieder
*Angriffs*krieg" oder "nie wieder Faschismus".

Auch wenn es natuerlich vollkommen in Ordnung ist, beispielsweise aus
pazifistischen Motiven jegliche Gewaltanwendung - auch zur
Selbstverteidigung - abzulehnen, so kann man das jedoch lediglich fuer sich
selbst entscheiden und hat nicht das Recht, anderen die Gewaltlosigkeit
aufzuzwingen - niemand wuerde schliesslich auf die Idee kommen, bei einem
Ueberfall dem Opfer zuzurufen "neinnein, du darfst dich keinesfalls zur Wehr
setzen, ich bin Pazifist". Das ist aber genau das, was im Fall der Ukraine
von entsprechenden Leuten regelmaessig zu hoeren ist.

Im uebrigen prangere ich an, dass diese Friedensbewegten, die bei jeder sich
bietenden Gelegenheit vor die Mikrofone treten und gegen die Unterstuetzung
der Ukraine Stimmung machen, niemals ihre Forderungen an den Aggressor, die
russlaendische Foederation, und deren Unterstuetzer richten, sondern immer
nur an die Unterstuetzer der Ukraine.

Dabei sollte gerade fuer uns Deutsche, die wir die Kinder der
Angriffskrieger von 1939 sind, absolut unstreitig sein, dass das
internationale Recht mit seinem Verbot von Angriffskriegen mit allen Mitteln
aufrecht erhalten werden muss. Denn wenn Angriffskriege fuer die Taeter
keine Konsequenzen haben, sondern sie sogar noch belohnt werden, leben wir
in Kuerze in einer deutlich anderen Welt, in der wieder das Recht des
Staerkeren gilt und Staaten mit Waffengewalt nach Gutduenken Grenzen
verschieben und Territorien an sich reissen koennen. Im Fall der Russen
hatten deren bisherige Angriffskriege seit 1999 schon viel zu wenig
Konsequenzen, weswegen sie jetzt ein fuer allemal gestoppt werden muessen,
bevor das Beispiel (noch mehr) Schule macht.

Es waere auch hilfreich fuer Russland selbst, wenn sie endlich mal einen
imperialistischen Eroberungsfeldzug verlieren wuerden, denn die derzeitige
europaeische Friedensordnung besteht nur deshalb, weil die betreffenden
Maechte wie z.B. Deutschland (aber auch andere) nach und nach ihre
jeweiligen imperalistischen Kriege verloren haben.

Dass es bisher noch nicht zu einem Erfolg der Russen gekommen ist, haben wir
einzig und allein den Ukrainern zu verdanken. Dass die gut zwei Jahre seit
Beginn der russischen Vollinvasion sich so entwickelt haben, wie es aktuell
der Stand ist, ist keinesfalls selbstverstaendlich - wir neigen aber leider
viel zu schnell dazu, eine Situation, die sich positiv entwickelt hat, als
selbstverstaendlich anzusehen, so als waere es der zwanglaeufige Lauf der
Dinge gewesen, oder vorherbestimmt, oder als haette es ja eh gar nicht
anders laufen koennen, oder was auch immer man sich zurechtlegt.

Wir nehmen beispielsweise als gegeben hin, dass es bislang trotz
hartnaeckiger Versuche keine Zerstoerung der ukrainischen Gesellschaft
gegeben hat. Natuerlich finden in den besetzten Gebieten Massendeportationen
statt, natuerlich wurden bis zur Haelfte der Einwohner der besetzten Gebiete
der Oblast Kherson gefoltert. Lokale Buergermeister und Ortsvorsteher wurden
verfolgt und umgebracht, es gibt genozidale Aktivitaeten in den besetzten
Gebieten, aber die ukrainische Zivilgesellschaft existiert noch, und zwar
dank der ukrainischen Armee. Das kommt uns inzwischen selbstverstaendlich
vor.

Es wurde darueber hinaus  schwerer Schaden von der internationalen
Rechtsordnung abgewendet, die ja unter anderem darauf gruendet, dass ein
Land nicht einfach in ein anderes einmarschieren und dessen Territorien
uebernehmen kann. Die Ukrainer verteidigen mit ihrem Land gleichzeitig auch
dieses Prinzip. Haetten sie aufgegeben, waere es darum viel schlechter
bestellt.

Als Drittes halten die Ukrainer auch das Existenzmodell der gesamten EU
aufrecht, das im Kern darauf beruht, dass post-imperiale Laender miteinander
friedlich und ohne Kriege miteinander interagieren koennen. Dieses Modell
besitzt immer noch seine Wirkung, weil die Ukrainer sich verteidigen.
Haetten sie aufgegeben, waere es weitaus weniger ueberzeugend.

Wir schenken auch der Tatsache kaum eine Beachtung, dass die Ukrainer den
NATO-Auftrag erfuellen, einen Angriff der russischen Armee aufzuhalten und
abzuwehren. Ein Land macht aktuell genau das, und dieses Land ist nicht
einmal Mitglied der NATO, und auch das ist inzwischen selbstverstaendlich
geworden, obwohl es das nicht ist.

Ausserdem - wie ihr vielleicht bemerkt habt - gab es in den letzten Jahren
keinen Krieg mit China, obwohl in der aussenpolitischen Diskussion der
letzten rund 25 Jahre staendig ueber einen solchen geredet wurde. Der
ukrainische Widerstand gegen die Russen zeigt den Chinesen deutlich, dass
Offensivoperationen unvorhersagbar und schwierig sind. Dadurch schrecken
sie China ab, und zwar interessanterweise in einer Art, wie es der Westen
oder die USA nicht koennten. Denn die meisten Abschreckungsmassnahmen
seitens beispielsweise der USA koennen als Provokation aufgefasst werden.
Die Selbstverteidigung ihres souveraenen Territoriums durch die Ukrainer
provoziert jedoch niemanden und kann auch bei sehr freier Interpretation
nicht als Provokation aufgefasst werden. Das bedeutet, dass die Ukrainer
etwas fuer uns, den Westen tun, das wir nicht selbst tun koennten.

Genauso hat es bisher keinen Atomkrieg gegeben, wie vielleicht aufgefallen
sein duerfte. Dies ist deswegen wichtig, weil sich die Ukrainer als Staat
ohne Nuklearwaffen gegen eine Atommacht in einem konventionellen Krieg
verteidigen und damit demonstrieren, dass nicht jedes Land zwingend
Atomwaffen braucht - obwohl aufgrund des Angriffs eine Menge Staaten
darueber nachdenken oder entsprechende Plaene schmieden. Haette die Ukraine
den Kampf aufgegeben oder wuerde sie verlieren, wuerde diese Zurueckhaltung
sehr schnell in das Gegenteil umschlagen.

Das heisst, wir haben die Tatsache, dass in unserer aktuellen Timeline keine
Massenverbreitung von Atomwaffen stattfindet, die internationale Ordnung
genauso wie die europaeische Ordnung weitgehend intakt sind, dass es keinen
landesweiten Genozid gibt, und dass die Rechtsordnung allgemein weitgehend
intakt ist, vor allem dem ukrainischen Widerstand zu verdanken.

Die Ukrainer haben uns eine Menge Zeit erkauft, es sieht aber leider
verstaerkt danach aus, als wuerden wir ihnen dies dadurch zurueckzahlen,
dass wir sie ignorieren, ihnen aus dem Weg gehen, dass wir einfach keine
hilfreiche Politik machen und keine sinnvolle Strategie haben. Das kann
insgesamt desastroese Folgen haben. Denn die Tatsache, dass unsere aktuelle
Timeline noch recht positiv aussieht, heisst mitnichten, dass sie sich nicht
wenden und mit einer anderen, viel unguenstigeren wieder zusammenfallen
kann. Und es ist moeglich, dass wir uns durch unsere Inaktivitaet auf genau
den kritischen Moment zubewegen, in dem sie das tun wird.

Einen Moment, in dem die Front in der Ukraine zusammenbricht, einen Moment,
in dem die Ukraine diesen Krieg verliert, und einen Moment, in dem sich all
die Dinge, die ich oben aufgefuehrt habe, umkehren, und sie ploetzlich
eintreten, und dann fragen sich alle, wie es dazu kommen konnte. Und die
Antwort auf diese Frage werden all die Dinge sein, die wir 2023 und 2024
nicht getan haben und immer noch nicht tun, obwohl wir die Zeit gehabt
haetten.

Dieser Moment koennte kommen, und schneller, als uns lieb sein kann, denn
die Russen bereiten aktuell eine neue, grosse Offensive in der Ukraine vor,
weil sie Morgenluft wittern, denn die Ukrainer haben aufgrund unserer
Untaetigkeit grosse Materialprobleme. Die Russen haben ein Programm zur
Zerstoerung von Kharkiv aufgelegt, der zweitgroessten Stadt der Ukraine
(etwa so gross wie Muenchen), das sie seit Wochen und Monaten durchziehen,
und wie sie es zuvor schon in Aleppo, in Mariupol, in Grozny durchgezogen
haben.

Und alle werden hochgradig ueberrascht sein, wenn dieser Moment tatsaechlich
eintritt. Es wird dann auch zunaechst niemandem bewusst sein, dass es unser
Fehler war, denn wie koennte das auch sein - wir haben ja fast nichts getan.
Und genau diese Untaetigkeit kann dazu fuehren, dass die Zeiten sich
zurueckwenden, und dann werden wir auch verwundert sein, wie viel wir
tatsaechlich verlieren, und wie schnell dieser Verlust gehen wird.
Denn man ist nicht nur fuer das verantwortlich, was man tut, sondern auch
fuer das, was man unterlaesst.

Was wird passieren, wenn diese Invasion Erfolg haben sollte?

Es wird ein grossangelegter, ungehinderter Genozid in der Ukraine
stattfinden.
Die Internationale Rechtsordnung wird ins Wanken geraten.
Das Existenzmodell der Europaeischen Union wird ernsthaft angeschlagen sein,
wenn nicht gar vollstaendig unterminiert.
Die Ukraine wird nicht laenger den Auftrag der NATO erfuellen - was die
Frage aufwirft: wer denn dann?
Und wir koennen uns auf die weitere Verbreitung von Atomwaffen freuen und
auf eine bedrohlich erhoehte Gefahr fuer einen Krieg in Fernost.

Und das ist noch nicht alles.

Was ebenfalls kompromittiert wird, ist das Ansehen und die Glaubwuerdigkeit
des Westens/der EU/der USA. Denn auch, wenn wir uns selbst einreden,
dass die Ukraine nicht wichtig ist, weil unsere Aufmerksamkeit laengst
woanders ist, wird die Situation dennoch von jedermann rund um die Welt sehr
genau beobachtet. Und alle diese Leute, egal ob sie nun eher anti-westlich
eingestellt sind oder nicht, sehen, dass wir auf die Probe gestellt werden,
die sie als eine mit Leichtigkeit zu schaffende Probe betrachten. Sie ist
deswegen leicht, weil wir keine eigenen Soldaten schicken muessen. Leicht
auch deswegen, weil das noetige Geld nahezu irrelevant wenig ist. Leicht
zusaetzlich, weil dieser Fall ideologisch genau das ist, wovon wir immer
behaupten, dass es uns wichtig sei: eine Demokratie, die direkt bedroht
wird, und die man unterstuetzen muss.

Wenn wir also einen Test nicht schaffen, den unsere Verbuendeten, Gegner
und praktisch jedermann sonst als ausgesprochen leicht ansehen, koennen wir
kaum davon ausgehen, dass unsere Verbuendeten, Gegner und jedermann sonst
uns auch nur ansatzweise zutrauen, dass wir viel schwierigere Pruefungen in
der Zukunft bestehen wuerden. Wir koennen rumlabern so viel wir wollen, wenn
wir diesen Test verkacken, wird niemand mehr glauben, dass wir jemals
irgendwelche anderen bestehen werden.

Und das ist nicht alles.

Sollte die Ukraine verlieren, heisst das nicht, dass das Land verschwindet.

Es heisst vielmehr, dass ihre ausgebildeten und erfahrenen Soldaten zum
Dienst in der russischen Armee gepresst werden.

Es heisst, dass alle Technologien, die die Ukraine selbst entwickelt hat,
und die beispielsweise Taiwan sehr gut gebrauchen koennte, stattdessen an
Russland und China fallen werden.

Es heisst, dass die ukrainische Landwirtschaft, die der dritt- oder
viertgroesste Agrarsektor weltweit ist, von Russland kontrolliert wird.

Es heisst, das die Bodenschaetze in der Ukraine, von denen beispielsweise
die seltenen Erden hochinteressant sind, ebenfalls von Russland kontrolliert
werden.

Es gibt also eine Menge zu verlieren, sollte das eintreten. Die ukrainischen
Ressourcen, einschliesslich der Menschen dort, werden von Russland genutzt
werden, und es wird dann dieses neue Russland sein, mit dem wir uns
auseinandersetzen muessen.

Ein Russland, das einen Angriffskrieg gewonnen hat.
Ein Russland, das bewiesen hat, dass die internationalen Regeln einen Dreck
wert sind.
Ein Russland, das eine Menge Ressourcen gewonnen hat.
Ein Russland, das nicht nur sich selbst, sondern auch einem grossen Teil
der Welt vorgefuehrt hat, dass es keinen besonderen Grund gibt, den Westen
allzu ernst zu nehmen.

Das ist dann die Situation, die wir haben werden.

Sich angesichts dessen, was bereits passiert ist, was aktuell passiert, und
was bei fortgesetzter Untaetigkeit in Zukunft passieren kann, hinzustellen
und Politiker an die Front zu wuenschen, die sich nach Kraeften bemuehen,
die Ukraine zu unterstuetzen, ist geradezu erschreckend kurzsichtig und in
hoechstem Masse moralisch verwerflich.

Gruss, Arathorn.


PS: Einige Gedanken hier entlehnt: https://www.youtube.com/watch?v=JVs2y-YeiFM

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